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Kant: Zum ewigen Frieden

Hinweise von Lutz Schuberth zu meinem Leserbrief in der SZ vom 13./14. Mai 2015 haben auch mich zur erneuten Lektüre von Kants ‚Zum ewigen Frieden’, diesem ebenso berühmten wie oft studierten und kommentierten Klassiker der praktischen Philosophie von 179541, veranlasst. Wir können diese Schrift nicht oft genug wiederlesen und versuchen, sie zu verinnerlichen.

Kant beschränkt sich nicht auf beschwörende Friedensrufe oder die Schilderung eines künftigen Idealzustandes. Ängste und Machtgelüste, Selbsterhaltung und Egoismus, aber auch Sehnsucht nach Gerechtigkeit gehören für ihn zur conditio humana. Es geht ihm um eine belastbare Theorie der Politik.

1.
Vor der Französischen Revolution war Kants Haltung zum Krieg zwiespältig. So führte er etwa in der Ende 1785 verfassten Studie „Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte“, zu der ihn Herders „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ angeregt hatten, aus:

Man muss gestehen, dass die größten Übel, welche gesittete Völker drücken, uns vom Kriege, und zwar nicht so sehr von dem, der wirklich oder gewesen ist, als von der nie nachlassenden und sogar unaufhörlich vermehrten Zurüstung zum künftigen zugezogen werden. Hierzu werden alle Kräfte des Staates, alle Früchte seiner Kultur, die zu einer noch größeren Kultur gebraucht werden könnten, verwandt; der Freiheit wird an so vielen Orten mächtiger Abbruch getan und die mütterliche Vorsorge des Staates für einzelne Glieder in eine unerbittliche Härte der Forderungen verwandelt, indes diese doch auch durch die Besorgnis der äußeren Gefahr gerechtfertigt wird.

Gleichwohl meint Kant unter den gegenwärtigen Verhältnissen dem Krieg nicht abschwören zu können. Er packt seine Bedenken in folgende – sehr verklausulierte – rhetorische Frage

Allein würde wohl diese Kultur, würde die enge Verbindung der Stände des gemeinen Wesens zur wechselseitigen Beförderung ihres Wohlstandes, würde die Bevölkerung, ja sogar der Grad der Freiheit, der, obgleich unter sehr einschränkenden Gesetzen, noch übrig ist, wohl noch angetroffen werden, wenn jener immer gefürchtete Krieg selbst den Oberhäuptern der Staaten diese Achtung für die Menschheit nicht abnötigte?

Ich verstehe Kants Frage so: Nur solange die Machthaber unter der Fuchtel der permanenten Kriegsdrohung stehen, sind sie auf ihre Untertanen angewiesen und müssen ihnen ein Mindestmaß an Kultur, Wohlstand und Freiheit einräumen. – Kant schließt hier mit der resignierenden Feststellung:

Auf der Stufe der Kultur also, worauf das menschliche Geschlecht noch steht, ist der Krieg ein unentbehrliches Mittel, dieses noch weiter zu bringen; und nur nach einer (Gott weiß wann) vollendeten Kultur würde ein immerwährender Friede für uns heilsam und auch durch jene allein möglich sein.

2.
Kant durchdachte angesichts der Revolution von 1789 das Verhältnis von Mensch und Politik neu. Freiheit und Recht sind die sich gegenseitig bedingenden Grundlagen der Republik. Im Naturzustand sind die Menschen einander feindlich gesonnen. Aber als intelligente Wesen erkennen sie die Notwendigkeit einer Res publica und besonders die Vorteile des staatlichen Gewaltmonopols an. Damit erlangt das Recht fundamentale Bedeutung.

Kriege haben zur Besiedelung des weiten Erdenrundes geführt. Aber damit haben sie ihren Zweck erfüllt. Denn nunmehr überwiegen ihre Nachteile die Vorteile. Ebenso wie Individuen können auch Staaten, die – wie diese – Rechtspersonen sind, rechtliche Verpflichtungen eingehen, sich dem (Völker-)Recht unterstellen. Einen die gesamte Menschheit umfassenden Weltstaat hält Kant zwar nicht für wünschenswert. Doch eine Föderation aller Staaten ist sowohl jedem einzelnen Mitglied als auch allen zusammen diaenlich. Eine funktionsfähige Weltrepublik hält er in absehbarer Zeit weder für realisierbar noch für wünschbar, zumal sie nur unter hegemonialen Vorzeichen wahrscheinlich wäre. Aber was spricht gegen rechtliche Bindungen, die den Staaten ihr Eigenleben belassen, aber die Gewaltanwendung in vergleichbarer Weise, wie im innerstaatlichen Bereich, monopolisieren? Was spricht gegen das Ernstnehmen der Stipulationen der UN-Charta? – ein Vertragswerk übrigens, das die kantische Föderalismusidee zwar aufgegriffen, aber – in Anbetracht der Sonderrolle der (fünf) Großmächte im Sicherheitsrat – nicht konsequent umgesetzt hat.

3.
Kant gab seiner Schrift von 1795 die Form eines Friedensvertrages – gegliedert in zwei Abschnitte und einen Anhang; der erste Abschnitt enthält sechs, mit Erläuterungen versehene Präliminarartikel, der zweite Abschnitt drei Definitivartikel sowie zwei Zusätze, nämlich die Garantie des ewigen Friedens und einen geheimen Zusatz; es folgt ein Anhang, der im 1. Teil „die Mißhelligkeit zwischen Moral und Politik in Absicht auf den ewigen Frieden“ und im 2. Teil „die Einhelligkeit von Politik und Moral nach dem transzendentalen Begriffe des öffentlichen Rechts“ behandelt.

Die sechs Primärartikel enthalten gebotene Unterlassungen (Verbote), nämlich keine inneren Vorbehalte (Mentalreservationen) bei Friedensschlüssen, keine Einverleibung oder sonstige Verfügung über souveräne Staaten, keine stehenden Heere, keine Staatsverschuldungen, keine Einmischung in innere Angelegenheiten und keine gröblich vertrauenszerstörenden Handlungen im Krieg (z. B. Meuchelmörder, Giftmischer, Brechung der Kapitulation, Anstiftung des Verrates).

Die drei Definitivartikel behandeln die Friedensstiftung: republikanische Verfassung, Völkerbund und Gastrecht als Weltbürgerrecht.

4.
Wie steht es nun aber mit der Realisierbarkeit der vorstehenden Postulate. Kant behandelt diese zentrale Frage in drei Abschnitten: im ersten Zusatz zu den Definitivartikeln „Von der Garantie des ewigen Friedens“ und in den beiden Teilen des Anhangs.

4.1
In der „Garantie“ tut Kant zunächst dar, „was die Natur für ihren eigenen Zweck in Ansehung der Menschengattung als einer Tierklasse tut.“ D. h. die Natur sorgte 1. dafür, dass Menschen fast überall auf dem Globus existieren können, 2. dafür, dass durch Kriege selbst die unwirtlichsten Gegenden besiedelt wurden, und 3. dafür, dass die Menschen durch den Krieg genötigt worden sind, in mehr oder weniger gesetzliche Verhältnisse zu treten. Der Krieg scheine „auf die menschliche Natur gepfropft zu sein und als etwas Edles, wozu der Mensch durch den Ehrtrieb ohne eigennützige Triebfedern beseelt wird, zu gelten.“ Sogar Philosophen sähen in ihm eine gewisse Veredelung der Menschheit, „uneingedenk des Ausspruchs jenes Griechen: ‚Der Krieg ist darin schlimm, daß er mehr böse Leute macht, als er deren wegnimmt.’“

4.2
Danach kommt Kant auf den Kern der Frage zu sprechen: Inwiefern zwingt die Natur den Menschen zu vernünftigem Handeln, obwohl er frei ist, sich auch unvernünftig zu verhalten?42

Er sieht die Antwort in Hinblick auf die innerstaatliche Ordnung in der Zwangsläufigkeit für intelligente Wesen, sich im wohlverstandenen Eigeninteresse so zu organisieren, dass sich die zerstörerischen, gegeneinander gerichteten Kräfte wechselseitig aufheben, „sodass der Erfolg für die Vernunft so ausfällt, als wenn beide gar nicht da wären, und so der Mensch, wenn gleich nicht ein moralisch-guter Mensch, dennoch ein guter Bürger zu sein gezwungen wird.“43 Kant schließt diesen Gedanken ab mit dem geflügelten, wohl auf die Französische Revolution anspielenden Wort:

Die Natur will unwiderstehlich, daß das Recht zuletzt die Obergewalt erhalte. Was man nun hier verabsäumt zu tun, das macht sich zuletzt von selbst, obzwar mit viel Ungemach.

Auch im Hinblick auf das Völkerrecht sieht Kant im Gleichgewicht die von der Natur gewollte Lösung. Zwar sei das Nebeneinander vieler unabhängiger benachbarter Staaten ein Zustand des Krieges, sofern dem nicht eine föderative Vereinigung vorbeuge. Er sei aber besser als eine Verschmelzung in einer Universalmonarchie, die die rule of law zunehmend missachte und schließlich in Anarchie münde. Jeder Staat, jedes Staatsoberhaupt habe das Verlangen, sich mittels Weltherrschaft ewigen Frieden zu sichern. „Aber die Natur will es anders.“ Nationalstaaten hätten zwar einen Hang zu wechselseitigem Hass, doch wirke dem „anwachsende Kultur und die allmähliche Annäherung der Menschen zu größerer Einstimmung in Prinzipien zum Einverständnis in einen (wahren) Frieden“ entgegen.

Die dritte Kraft, die von Natur aus den Frieden garantiere, sei der Handelsgeist und die Geldmacht. Sie sind der Staatsmacht untergeordnet. Der Handelsgeist könne mit dem Krieg nicht zusammen bestehen. Und die Geldmacht hat großes Interesse am Handel.

„Auf die Art garantiert die Natur durch den Mechanismus der menschlichen Neigungen selbst den ewigen Frieden; freilich mit einer Sicherheit, die nicht hinreichend ist, die Zukunft desselben (theoretisch) zu weissagen, aber doch in praktischer Absicht zulangt, und es zur Pflicht macht, zu diesem (nicht bloß chimärischen) Zwecke hinzuarbeiten.“

4.3
Der „Anhang“ betrachtet Moral, Politik, Recht und ewigen Frieden. Moral erwächst einerseits aus der Gebrechlichkeit der menschlichen Natur und andererseits aus seinem Selbstverständnis als vernünftigem Wesen. Politik ist Praxis und nur in der Gestalt des „moralischen Politikers“, nicht aber in der des „politischen Moralisten“ zu Ende gedacht und erträglich. Recht erwächst – wie Moral – aus der conditio humana, hat aber seine Pointe in der notfalls zwangsweisen Durchsetzbarkeit der Rechtsansprüche. Kultur schreitet fort, ewiger Friede ist zwar nur als Annäherung zu denken, doch wir haben alles in unserer Macht stehende zu tun, um ihn zu befördern.

Der Anhang gibt Antwort auf die Frage, „Was sollen wir tun?“ Er liest sich wie eine gedrängte Lebenssumme Kants, wie sein Vermächtnis, und er schließt vorsichtig, aber zuversichtlich mit den Worten:

Wenn es Pflicht, wenn zugleich gegründete Hoffnung da ist, den Zustand des öffentlichen Rechts obgleich nur in einer ins Unendliche fortschreitenden Annäherung wirklich zu machen, so ist der ewige Friede, der auf die bisher fälschlich sogenannten Friedensschlüsse (eigentlich Waffenstillstände) folgt, keine leere Idee, sondern eine Aufgabe, die nach und nach aufgelöst, ihrem Ziele (weil die Zeiten, in gleiche Fortschritte geschehen, hoffentlich immer kürzer werden) beständig näher kommt.

4.4
Im Einzelnen legt Kant im ersten Teil des Anhangs die „Misshelligkeit“ und im zweiten Teil die „Einhelligkeit“ von Moral und Politik dar. Dabei grenzt er seine Herleitungen scharf ab von Überlegungen einer Klugheitslehre. Muss man, so spitzt er die Alternative zu, „in Aufgaben der praktischen Vernunft vom materiellen Prinzip derselben, dem Zweck“ ausgehen oder „vom formalen, d. i. demjenigen …darnach es heißt: handle so, dass du wollen kannst, deine Maxime solle ein allgemeines Gesetz werden (der Zweck mag sein, welcher er wolle).“

Für Kant ist klar: die Alternative ist zugunsten des formalen Prinzips zu entscheiden. Das materielle Prinzip sei das des politischen Moralisten, während das formale Prinzip das des moralischen Politikers sei, jenes sei eine „bloße Kunstaufgabe (problema technicum), dieses hingegen „eine sittliche Aufgabe (problema morale)“, die jenem zur Herbeiführung des ewigen Friedens himmelweit überlegen sei. Das Staats-Klugheitsproblem zu lösen erfordere viel Kenntnis der Natur, der Erfolg in Hinblick auf den ewigen Frieden sei aber höchst ungewiss. Anders beim Staatsweisheitsproblem; hier dringe sich die Auflösung sozusagen von selbst auf, allerdings dürfe der ewige Friede nicht „übereilterweise mit Gewalt herbeigezogen werden, sondern (man müsse) sich ihm nach Beschaffenheit der günstigen Umstände unablässig “ nähern.

5.
Weitere wörtliche Zitate aus Kants Schrift von 1795

5.1

Die wahre Politik kann keinen Schritt tun, ohne vorher der Moral gehuldigt zu haben. Das Recht der Menschen muss heilig gehalten werden, der herrschenden Gewalt mag es auch noch so große Aufopferung kosten. Man kann hier nicht halbieren und das Mittelding eines pragmatisch-bedingten Rechts (zwischen Recht und Nutzen) aussinnen, sondern alle Politik muß ihre Knie vor dem ersteren beugen, kann aber dafür hoffen, obzwar langsam, zu der Stufe zu gelangen, wo sie beharrlich glänzen wird.

5.2

Man kann folgenden Satz die transzententale Formel des öffentlichen Rechts nennen: ‚Alle auf das Recht anderer Menschen bezogenen Handlungen, deren Maxime sich nicht mit der Publizität verträgt, sind unrecht.’

5.3

Alle Maximen, die der Publizität bedürfen (um ihren Zweck nicht zu verfehlen), stimmen mit Recht und Politik vereinigt zusammen.

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