4. Du sollst nicht töten!

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Töten und getötet werden – Yoram Kaniuk (1930-2013)

In seinem Roman „1948“ (3. Auflage 2013 S. 227) schreibt Yoram Kaniuk: „Jeder Soldat, der kämpft, liebt das Schießen und Töten.“

Die Stelle im ganzen lautet: „…in jedem Krieg haben Soldaten etwas an sich, das Menschen, die nicht gekämpft haben, niemals kennen werden: diesen ungeheueren Hang zum Töten, wenn du einmal dabei bist. Es gibt einen archaischen Instinkt im Menschen, wir werden geboren für den Überlebenskampf, geboren, um zu jagen, unsere Familie zu verteidigen. Ich weiß noch, zwischendurch, zwischen Schmerz und Leere, liebte ich die Kampfmomente. Wir alle liebten sie. Jeder Soldat, der kämpft, liebt das Schießen und Töten. Er hat einen Feind. Der Feind enthebt ihn der Notwendigkeit, über Moral nachzudenken. Im Kampf sind wir menschliche Bestien. Blutdurstig. Da hilft gar nichts.“

Der 17jährige Kaniuk hatte die Schule abgebrochen, um sich im israelischen Unabhängigkeitskrieg von 1948 der Palmach anzuschließen. Im hohen Alter blickte er kritisch auf diese Zeit zurück.

Auch der 20jährige Ernst Jünger beschrieb in einem Feldpostbrief, wie ein von ihm getroffener Engländer auf den Rücken fällt, nicht mehr aufsteht, und er dies durch seinen Feldstecher beobachtet. „Es ist zwar eigentlich wenig schön, ich freue mich aber doch.“ Über die eigene Lebensgefahr sinniert Jünger in einem Brief vom Februar 1918 an seinen Bruder Friedrich Georg: „Übrigens gehört es zu meinen Maximen, dass uns die Freiheit immer gewogen bleibt, solange wir mit dem Tode als Dritten im Bunde einverstanden sind. Daher fühle ich mich zwischen den Linien auch wohl.“ – „Es ist mein altes Leiden, dass mir jeder Punkt, an dem ich gerade nicht weile, verlockend erscheint. Vielleicht wird der Tod der Ort dieser Orte sein?“ E. Jünger starb 1998 im 103. Lebensjahr.

Erklärung von 1930 zur Wehrpflicht

Die Wehrpflicht liefert die Einzelpersönlichkeit dem Militarismus aus. Sie ist eine Form der Knechtschaft. Dass die Völker sie gewohnheitsmäßig dulden, ist nur ein Beweis mehr für ihren abstumpfenden Einfluss.

Militärische Ausbildung ist Schulung von Körper und Geist in der Kunst des Tötens. Militärische Ausbildung ist Erziehung zum Kriege. Sie ist Verewigung des Kriegsgeistes. Sie verhindert die Entwicklung des Willens zum Frieden.

Unterzeichnet von Jane Addams, Paul Birukov und Valentin Bulgakov (Mitarbeiter von Leo Tolstoi), John Dewey, Albert Einstein, August Forel, Sigmund Freud, Arvid Jaernefelt, Toyohiko Kagawa, Selma Lagerlöf, Judah Leon Magnes, Thomas Mann, Ludwig Quidde, Emanuel Radl, Leonhard Ragaz, Henriette Roland Holst, Romain Rolland, Bertrand Russell, Upton Sinclair, Rabindranath Tagore, H.G. Wells, Stefan Zweig u. a.

Die Mara 18-Bande in San Salvador27

„Töte, um zu leben, lebe um zu töten!“ – so der Wahlspruch der „Mara 18“-Bande in San Salvador, über die Christian Poveda (1955-2009) einen Dokumentarfilm gedreht hat28. Der in Algerien geborene Regisseur hatte viele Jahre als Fotoreporter gearbeitet und in den achtziger Jahren für Newsweek den Bürgerkrieg in El Salvador dokumentiert. Er blieb im Land und beobachtete, wie nach 1992 sich das Bandenwesen seuchenartig ausbreitete, initiiert von heimkehrenden Bürgerkriegsflüchtlingen, die in Los Angeles Jugendbanden gegründet hatten. „Ich wollte verstehen, wie es dazu kommt, dass schon Dreizehnjährige töten, was diese Menschen treibt, sich den Gangs anzuschließen.“ Er bezeichnet seinen Film als „eine Dokumentation über die absolute menschliche Einsamkeit“.

Die Jugendlichen sind gesellschaftlich „Überflüssige“, sie fliehen aus der Bedeutungslosigkeit ihres Daseins in die Clan-Zugehörigkeit und akzeptieren den Tod als ihre Bestimmung. Die straff organisierte Gang ist für sie Familienersatz, Aussicht auf schnelles Drogengeld, auf die Clan-Identität und deren fatalen Ehrenkodex. Das treibt sie in die Spirale aus Hass und Gewalt.

Christian Poveda wurde beim Versuch, eine Fortsetzung zu la vida loca zu drehen, am 2. September 2009 – wahrscheinlich auf Befehl des neuen Clan-Chefs der „Mara 18“-Bande – erschossen.

Jonathan Shay: Achill und die traumatisierten Veteranen des Vietnamkrieges

Der Wahlspruch der „Mara 18“-Bande gilt auch für Soldaten an der Front. Der Psychiater Jonathan Shay29 arbeitete mit traumatisierten Veteranen des Vietnamkrieges. Viele berichteten vom Zustand einer unbezähmbaren Wut, in dem sie ihr eigenes Überleben nicht mehr kümmerte, in dem sie aber ihre militärischen und zivilen Gegner meuchelten, zerschossen, vergewaltigten, im Blutrausch zerstückelten oder ihre Köpfe pfählten. Keine unbedeutende Minderheit, ganz normale Männer.

Der Krieg produziert Berserker en masse. An den Folgen des Vietnamkrieges litten 1998 noch eine Viertelmillion ehemaliger Soldaten. Shay erkennt in Homers Achill das Urbild von solchem Berserkertum. Es wird hervorgerufen durch die unmittelbare Kampfsituation, insbesondere durch den Verlust eines nahen Kampfgefährten, darüber hinaus aber auch durch selbst erlittenes Unrecht, durch Zurücksetzung und – ganz besonders – durch Verrat an „dem, was recht ist“! Bei Achill war es die verletzende Vorenthaltung der ihm vom Heer zugesprochenen Beute durch den Heerführer Agamemnon, bei den amerikanischen Soldaten in Vietnam die ganze Art der Kriegsführung, die in krassem Gegensatz zu den zu Hause geltenden Werten wie Schutz der Zivilbevölkerung, insbesondere Kinder, Frauen und alte Leute, stand. Aber auch Verluste durch Feuer anderer Truppenteile der eigenen Seite (15 bis 20% der Kriegstoten seien solche Opfer gewesen).

Für Shay ist Homer ein Seelenarzt. Indem er Achills Schicksal öffentlich vorträgt, artikuliert er das Trauma. Die Hörer – und damit die Gesellschaft – nehmen teil am Schrecken, an der Trauer und an der Wut. Sie lassen den Traumatisierten nicht allein. Shay wünscht sich ein modernes Gegenstück zur attischen Tragödie.

Statistik der Toten des Zweiten Weltkrieges (Quelle Wikipedia)

Die Gesamtzahl der Kriegstoten des Zweiten Weltkriegs lässt sich nur schätzen. Die Schätzungen, die Verbrechen und Kriegsfolgen einbeziehen, reichen bis zu 80 Millionen Kriegstoten. Für die durch direkte Kriegseinwirkung Getöteten werden meist zwischen 50 und 56 Millionen angegeben.


Land

Soldaten

Zivilisten

Gesamt

Australien

30.000

30.000

Belgien

10.000

50.000

60.000

Bulgarien

32.000

32.000

Republik China

3.500.000

10.000.000

13.500.000

Deutschland

5.180.000

1.170.000

6.350.000

Finnland

89.000

2700

91.700

Frankreich

210.000

150.000

360.000

Griechenland

20.000

160.000

180.000

Großbritannien

270.825

62.000

332.825

Indien

24.338

3.000.000

3.024.338

Italien

240.000

60.000

300.000

Japan

2.060.000

1.700.000

3.760.000

Jugoslawien

740.000

950.000

1.690.000

Kanada

42.042

1.148

43.190

Neuseeland

10.000

10.000

Niederlande

22.000

198.000

220.000

Norwegen

7.500

2.500

10.000

Südafrika

9.000

9.000

Philippinen

100.000

100.000

Polen

300.000

5.700.000

6.000.000

Rumänien

378.000

378.000

Sowjetunion

13.000.000

14.000.000

27.000.000

Tschechoslowakei

20.000

70.000

90.000

Ungarn

360.000

590.000

950.000

USA

407.316

407.316


Die Demographen Maracel Reinhard und André Armengaud führten 1961 folgende Zahlen an:

  • Gesamtopfer des Zweiten Weltkriegs: ca. 50 Mio.
  • Sowjetunion: 17–25 Mio., davon 8–9 Mio. Soldaten, 9–16 Mio. Zivilisten
  • Polen: 5 Mio., davon 3,1 Mio. polnische Juden
  • Jugoslawien: 1,5 Mio., davon 1,2 Mio. Zivilisten
  • Griechenland: 500.000

Opfer deutscher Massenverbrechen im Kriegsverlauf


Opfergruppe

Helmuth Auerbach

Dieter Pohl

Juden

6.000.000

5.700.000

Sowjetische Kriegsgefangene

3.300.000

3.000.000

Roma/Sinti

219.600

mindestens 100.000

Euthanasieopfer

250.000

270.000

Nichtjüdische Zivilisten, KZ-Häftlinge, Zwangsarbeiter, Deportierte

3.340.000

4.300.000 (mit Hungertoten)

Gesamtzahl

13.109.600

13.370.000


Besonders die Zahlen der Holocaust-Opfer wurden seit 1990 mehrfach genau überprüft und die bis dahin ungewisse Zahl der sowjetischen und polnischen Holocaust-Opfer durch neue Quellen exakter bestimmt. Dabei wurde die Mindestzahl von 5,7 Millionen und die wahrscheinliche Gesamtzahl von 6,3 Millionen ermordeten Juden wissenschaftlich gesichert. Das Forschungsinstitut Yad Vashem hat bis 2010 die Namen von 4 Millionen Holocaust-Opfern dokumentiert.

Auf die Vorkriegsbevölkerung bezogen kamen in Deutschland/Österreich 9,5% und in der Sowjetunion 12,1% der Bevölkerung im Zweiten Weltkrieg um. Zu den besonders zu beklagenden Opfergruppen gehören die sowjetischen Sodaten, die in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten waren. 60% starben, meistens verhungerten sie. Die NS-Machthaber hatten sie für Untermenschen erklärt. Für Stalin waren sie Verräter mit entsprechenden Konsequenzen.

danke, viktor! von Christine Holch

Das evangelische Magazin chrismon 05. 2015 widmete aus Anlass der 70. Wiederkehr des Kriegsendes den Soldaten der Roten Armee – damals jungen, heute hochbetagten Menschen in Russland und der Ukraine – einen mit Portraitfotos bereicherten, 10seitigen Artikel „danke, viktor!“ Darin skizziert Christine Holch mit knappen, aussagekräftigen Strichen fünf bewegende Lebensbilder und gibt ein Interview mit Viktor Maximow und Hannelore Danders wieder.

Viktor Maximow hatte sich 1943 mit 17 an die Front gemeldet und die Folgen des Massakers an der Schlucht von Babi Jar gesehen. SS und Wehrmacht hatten im September 1941 in zwei Tagen hinterhältig 33 771 Juden aus Kiew erschossen.

Zum 20. Jahrestag des Massakers verfasste Jewgeni Jewtuschenko sein weltberühmtes Gedicht Babij Jar30, dessen erste zwei Zeilen wie folgt lauten (Übersetzung Paul Celans):

Babij_Jar

„Über Babij Jar, da steht keinerlei Denkmal.
Ein schroffer Hang – der eine unbehauene Grabstein.“

Viktor Maximow antwortete im Interview auf die Frage „Hatten Sie Hass?“ – „Ja. Das Leiden der friedlichen Bevölkerung hat mir eine tierische Wut gemacht. Ich wollte unbedingt bis Deutschland kommen und dort alles vernichten, was mir vor Augen kommt, aus Rache. Meine menschlichen Eigenschaften rückten weit in den Hintergrund, sie verliefen sich irgendwo im Gestern.“ Eine schwere Verwundung brachte ihn jedoch vorzeitig zurück in die Heimat, wo er Schwerstkriegsinvaliden begegnete. Er selbst arbeitete nach dem Krieg als Wirtschaftsingenieur im Ural.

Als die Sowjetunion 1991 zerfiel, litten unter mangelnder Versorgung besonders auch die invaliden Veteranen im Hospital von Jekaterinenburg. Maximow sagte sich, die aus der ehemaligen DDR abziehende Armee werde manches Brauchbare zurücklassen und reiste mit diesem Ziel zum ehemaligen Feind, eigentlich zu der noch in Ostdeutschland befindlichen Roten Armee. Auf dem sowjetischen Garnisonsfriedhof in Dresden kam ihm der Zufall zur Hilfe. Er traf Hannelore Danders, Russischlehrerin, die privat einen Blumenstrauß am Denkmal für die sowjetischen Kriegstoten niederlegte. Er sprach sie an, und bat sie im Laufe des Gesprächs um Rat und Unterstützung bei der Gründung eines deutschen Vereins für Hilfstransporte zugunsten sowjetischer Veteranen. Hannelore hatte eigentlich andere Pläne, sagte aber nicht Nein. So kam es zur Gründung der Gesellschaft für Kriegsveteranen in Rußland. Sie schickte im Lauf der Jahre fast 100 Bahncontainer zur medizinischen Versorgung nach Rußland. Zuletzt kümmerte sich die Gesellschaft auch um Stoma-Patienten (künstlicher Darmausgang), die in Rußland damals ohne dichte Beutel auskommen mußten, was für alle Beteiligten sehr schlimm war. Maximow: „Die Stoma-Patienten weinten vor Glück. Ihr habt uns unsere Würde wiedergegeben! Und den russischen Kriegsveteranen wurden viele 1000 Jahre Leben geschenkt, von Deutschen.“

Es hat Jahre gedauert, bis für Viktor Maximow aus ehemaligen Feinden Freunde geworden sind. Eine wichtige Rolle hat dabei ein deutscher Kriegsveteran und Freund von Hannelore, Wilhelm, gespielt. Wilhelm berichtete von einem Vorkommnis 1941 bei Welikije Luki im Westen Russlands: ein deutscher Stoßtrupp unter seiner Führung war plötzlich auf erbitterten Widerstand gestoßen und unter Maschinengewehrfeuer zurückgekrochen, eigene Verwundete mit sich ziehend, bis sie sich in eine Senke kullern lassen konnten. Da lagen schon drei russische Soldaten, einer tot, zwei verletzt. Die Deutschen griffen zu ihren Waffen, wechselten untereinander Blicke. Da sammelte der eine Russe ganz ruhig Tabakkrümel aus seiner Tasche zusammen, drehte sich mit Zeitungspapier eine Zigarette, schaute Wilhelm an und sagte: „Spitschki, Spitschki.“ Streichhölzer. Wilhelm schaute ihm ihn die Augen und holt sein Feuerzeug hervor. „Der Russe tut die ersten tiefen Züge und gibt schweigend das Feuerzeug zurück. Die Deutschen bewegen sich endlich wieder, bilden einen Kreis um die „Iwans“, einer kümmert sich um die Bauchwunde, der andere hält ihm die Feldflasche an die Lippen. Auf Frage Maximows sagte Wilhelm: ‚Vor meinen Augen vollzog sich etwas Unfassbares. Die graue Masse löste sich auf, und ich erkannte in diesen verwundeten russischen Soldaten Menschen. Ich fühlte unendlichen Schmerz und hatte Angst um die Menschen, die in die Klauen des Krieges geraten waren. …Wir Deutsche stehen vor dem russischen Volk mit einer nicht zu tilgenden Schuld. Auch ich bereue zu tiefst. “

Wilhelm selbst ist in Frankreich wegen Beteiligung an einem Massaker im Herbst 1944 im Tal der Saulx in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden. Maximow kann sich dessen Verstrickung in ein solches Verbrechen nicht vorstellen. Hannelore Danders ist schockiert: „Er war mein Weiterbilder, als ich junge Lehrerin war. Er kam aus der Wandervogelbewegung, war ein Humanist. Er hat doch Gedichte geschrieben! Allerdings sehr düstere, voll Todesahnung. Er hat sich sicher gewandelt, denn er verurteilte den Krieg. Einmal sagte er, er würde niemals auf Zivilisten schießen können. Ich bin überzeugt, dass ihn das, was in Frankreich war, im Nachhinein sehr bewegt hat. Ich wüßte gerne die Wahrheit. Leider lebt er nicht mehr.“ Und Maximow fügt hinzu: „Wilhelm hat mir immer Zigaretten mitgegeben für die Veteranen in Jekaterinenburg, viele Zigaretten, damit bin ich durch die Säle gegangen.“ Auf die Frage, ob er die heutigen Freunde sich als (damalige) Kriegsverbrecher vorstellen könne, sagt er: „Was die Freunde als Soldaten getan haben, kann ich mir vorstellen, aber friedliche Zivilisten erschießen – da kann ich nicht mitgehen. Andererseits: Ich weiß nicht, was ich alles getan hätte, wäre ich bis nach Deutschland gekommen. Auch ich habe Schuld abzutragen …weil ich Kameraden, die in Kriegsgefangenschaft waren, Jahrzehnte lang verachtet habe. ‚Verräter’ hatte Stalin sie genannt, sie seien übergelaufen aus Feigheit – und ich habe das geglaubt …“

Und auf die Frage nach seinem Umgang mit dem Schuldgefühl sagt Maximow: „Ich habe meinen ehemaligen Gegnern den ersten deutschen Soldatenfriedhof in Russland eröffnet, am 8. Mai 1995, in Maly Istok bei Jekaterinenburg. …Auch ich möchte mal auf diesem deutschen Soldatenfriedhof bestattet werden. Als Geste der Versöhnung. Mein Enkel ist damit beauftragt. …Mein Hass gegen die Feinde hat sich verwandelt in einen Hass gegen den Krieg. Deshalb bin ich sehr schlecht auf Putin zu sprechen. Ich wache jetzt oft nachts auf, weil ich träume, ich sei wieder im Krieg.“31

Ein Text von Wladimir Putin über seine Familie im Zweiten Weltkrieg

Auf der Webseite der russischen Zeitschrift „Ruskij Pionier“ ist ein Text von Wladimir Putin, Präsident der Russischen Föderation, erschienen, den die FAZ am 7. Mai 2015 in der Übersetzung von Joseph Wälzholz abgedruckt hat. Putin schildert darin, was seiner Familie und besonders seinen Eltern im Zweiten Weltkrieg widerfahren ist. Er weiss dies aus den elterlichen Erzählungen, die später überraschend genau ihm zugänglich gemachte Akten bestätigt haben.

Sein Vater arbeitete bei Kriegsbeginn (1941) in einem Rüstungsbetrieb, dessen Mitarbeiter vom Armeedienst freigestellt waren. Er meldete sich jedoch freiwillig zur Front. 1939 hatte er seinen Wehrdienst als Matrose in einem U-Boot-Trupp absolviert. Nun wurde er einem Diversionstrupp des NKWD (Volkskommissariat für innere Angelegenheiten) zugeteilt. Dieser bestand aus 28 Mann unter Führung eines Deutschen, der Sowjetbürger war. Sie hatten Brücken und Eisenbahngleise zu sprengen. Allerdings gerieten sie sehr bald – wohl infolge eines Verrates – in einen Hinterhalt. Sein Vater konnte sich retten, indem er sich in einem Sumpf eingrub und mehrere Stunden darin aushielt. Die Akte über diesen Trupp bestätigt den Bericht des Vaters. In ihr waren alle 28 Mitglieder mit Nachname, Vorname und Vatersname nebst kurzer Beurteilung aufgelistet; von den 28 Männern kamen nur 4 Mann zurück. Auch sie wurden wieder an die Front versetzt, und zwar zum besonders umkämpften Newski-Brückenkopf, wo der Vater schwer verwundet wurde. Er konnte nicht mehr gehen, musste aber über die zugefrorene Newa ans andere Ufer zur Rettungsstation, also über offenes Schussfeld, sodass niemand ihn über den Fluss schleppen wollte. Zufällig hatte es einen Nachbar aus seinem Wohnort Peterhof hierher verschlagen. Der schleppte ihn, ohne nachzudenken, zum anderen Ufer und wartete im Lazarett solange, bis er sicher war, dass der Vater operiert würde. Er verabschiedete sich: „Du wirst leben, und ich mache mich wieder auf den Weg, um zu sterben.“ Sein Schicksal quälte den Vater, denn er mußte annehmen, dass der Nachbar gefallen sei. In den 60er Jahren kam er einmal vom Einkaufen zurück und weinte. Er hatte seinen Retter in Leningrad in einem Lebensmittelgeschäft wiedergetroffen. Danach sahen sie sich öfters.

Nach seiner Verwundung besuchte die Mutter den Vater im Lazarett im belagerten Leningrad. Sie hatten einen dreijährigen Buben. Der Vater gab ihr heimlich seine Essensrationen für das Kind. Als dies auffiel, wurden die Besuche verboten. – Das Kind wurde der Mutter weggenommen. Man tat dies, um die Kinder vor dem Hungertod zu retten. Der Kleine kam in ein Kinderheim, wo er erkrankte und starb. Die Eltern waren nicht gefragt worden und erfuhren nicht einmal, wo ihr Kind begraben wurde. Erst jetzt haben Unbekannte, die in Eigeninitiative recherchiert haben, Putin Dokumente zugänglich gemacht, die Auskunft über seinen Bruder geben bis hin zur genauen Grabstelle auf dem Piskarjowskoe-Friedhof.

Und nun Putin wörtlich: „Als meiner Mutter das Kind schon weggenommen war und sie allein daheim war und meinem Vater wieder erlaubt war zu gehen, ging er auf Krücken nach Hause. Als er ankam, sah er, wie Sanitäter Leichen aus der Eingangstür trugen, unter ihnen meine Mutter. Er trat näher heran, und ihm schien, als atmete sie noch. Er sagte den Sanitätern: „Sie lebt doch noch!“ „Den Transport“, bekam er zur Antwort, „wird sie nicht überleben.“ Da ging er mit den Krücken auf die Sanitäter los und zwang sie, sie in die Wohnung zurück zu tragen. Sie sagten: „Gut, wir tun jetzt, was Du willst, aber sei Dir darüber im Klaren, dass wir die nächsten zwei bis drei Wochen hier nicht mehr vorbei kommen werden. Du musst dann allein zurecht kommen.“ Er pflegte sie gesund. Sie lebte bis zum Jahr 1999. Er verstarb 1998.“

Putins Vater hatte sechs Brüder, von denen fünf gefallen sind. Eine Katastrophe für die Familie. Die Mutter war 41 Jahre alt, als er geboren wurde. Es gab keine einzige Familie, in der nicht jemand gefallen ist. Es gab viel Kummer, viel Unglück, Tragödien. Und nochmals Putin wörtlich: „Was verwunderlich ist: Sie empfanden keinen Hass gegenüber dem Feind. Ich kann das, ehrlich gesagt, bis heute nicht ganz begreifen. Meine Mutter war überhaupt ein sehr weichherziger, gütiger Mensch …Sie sagte: ‚Wie soll man diese Soldaten hassen? Es waren einfache Leute, und sie sind auch im Krieg gefallen.’ Das ist erstaunlich. Wir wurden von sowjetischen Büchern und Filmen erzogen …Und wir hassten. Aber bei ihr war dies aus irgendeinem Grund überhaupt nicht so. Ich habe ihre Worte mir eingeprägt: ‚Was will man denn von ihnen? Sie waren fleißige Arbeiter wie wir auch. Man hat sie einfach an die Front getrieben.’ Von Kind an erinnere ich mich an diese Worte.“

Polnische Opfer deutscher Massenverbrechen im Zweiten Weltkrieg und Wladyslaw Bartoszewski (1922-2015)

Das Konzentrationslager (KL) Auschwitz wurde im Mai 1940 errichtet und am 14. Juni 1940 in Betrieb genommen. Zu Anfang war es für polnische politische Gefangene bestimmt. Schon Ende September waren es über 5000, im Frühling 1941 über 15 000 polnische Männer. Ziel der deutschen Machthaber war Verbreitung von Angst (Terror), Vernichtung polnischer Intelligenz, die Unterbindung von Widerstand jeder Art. Generalgouverneur Hans Frank (1900-1946) erklärte: „Ich gestehe ganz offen, dass das einigen Tausend Polen das Leben kosten wird vor allem aus der geistigen Führungsschicht Polens. Für uns alle als Nationalsozialisten bringt aber diese Zeit die Verpflichtung mit sich, dafür zu sorgen, dass aus dem polnischen Volk kein Widerstand mehr empor steigt.“

Im Spätsommer 1941 trafen mehr als zehntausend sowjetische Kriegsgefangene ein. An ihnen und an den erkrankten polnischen Gefangenen probiert man im September 1941 die Wirkung des Giftgases Zyklon B aus. Was sich damals niemand vorstellen konnte, es war dies „nur“ der verbrecherische Testlauf zum industriellen Völkermord an 6 Millionen jüdischen Menschen und anderen, als minderwertig oder schädlich eingestuften Menschen.

Wladyslaw Bartoszewski kam als 18jähriger im September 1940 in das im Juni eröffnete KL Auschwitz. Er gehörte zum zweiten Warschauer Transport, einer Gruppe von 1.705 Deportierten. Nach 199 Tagen wurde er – schwer krank – wieder entlassen. Danach wurde er ein führender Aktivisten im Żegota-Komitee, einem christlich-jüdischen Gemeinschaftsverband, der etwa 75.000 Juden rettete. Er nahm 1944 am Warschauer Aufstand teil. Nach dem Krieg brachten ihm seine politischen Aktivitäten im kommunistischen Polen über sechs Jahre im Gefängnis ein.

Sein Buch: Mein Auschwitz (Paderborn 2015) gibt über seine Zeit im KL Auschwitz Auskunft. Darin ist auch der 1942 im Untergrund erschienene Text „Auschwitz. Erinnerungen eines Häftlings“ enthalten. Es ist dies eine hektographierte Broschüre von 22 eng beschriebenen Seiten, die den Bericht eines todkrank aus dem KL Auschwitz entlassenen jungen Mannes enthält. Verfasserin war Halina Krahelka (1892-1945), eine schon vor dem Krieg bekannte Schriftstellerin, die im polnischen Widerstand aktiv war, 1944 verraten wurde und 1945 im KL Ravensbrück umkam. Bartoszewski hatte, während er nach seiner Entlassung wochenlang bettlägerig war, Hanka Czaki, einer Freundin des Hauses und Tochter des Unabhängigkeitskämpfers Tytus Czaki. auf ihr Drängen hin seinen Erlebnisbericht diktiert. Hanka Czaki schenkte ihm die Broschüre, in welcher er vieles aus seinem Bericht wieder erkannte (ca. 80%). Anderes konnte nur von Personen stammen, die schon vor ihm oder nach ihm im Lager waren. So z. B. der Bericht über den älteren Mitgefangenen, der sich für einen Jüngeren aufopfert – nach Bartoszewski ist dies eine etwas abgewandelte Version der wahren Geschichte von Maxmilian Kolbe. – Die Gestapo verhaftete Hanka Czaki im Januar 1944, folterte sie, richtete sie in der Nähe des Pawiak-Gegängnisses am 11. Februar 1944 hin und ermordete auch ihre Eltern.

Wladyslaw Bartoszewski, Historiker, Publizist und Politiker (mehrmaliger polnischer Außenminister) erhielt viele höchste Auszeichnungen, darunter 1986 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Zum 60. Jahrestag der Befreiung des KL Auschwitz hielt er am 27. Januar 2005 – neben Simone Veil aus Frankreich für die jüdische Gemeinschaft – die Gedenkrede. Er sprach für all jene, die für immer an diesem Ort geblieben waren und endete „O Erde, deck mein Blut nicht zu und ohne Ruhstatt sei mein Hilfeschrei!“ (Hiob 16, 18). Die Überschrift über seine Rede lautet: „Die ehemaligen Häftlinge haben das Recht zu glauben, dass ihre Leiden und ihr Tod einen Sinn hatten …“.

Verluste im Ersten Weltkrieg (Quelle: Wikipedia)

2014 jährte sich der Beginn des Ersten Weltkrieges zum hundertsten Mal. In dieser „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ mit seinen mörderischen „Ausblutungsschlachten“ fanden fast 10 Millionen Soldaten einen grausamen Tod, weitere 20 Millionen wurden verwundet und blieben fürs Leben an Körper oder Seele gezeichnet. Ganze Landstriche wurden verwüstet – von Granaten zerklüftet, durch Giftgas verseucht. Namen wie Verdun, Ypern, Tannenberg oder die Somme stehen für ein bis dahin beispielloses Massensterben, das der damaligen Propaganda vom „Heldentod“ hohnlacht.

Ich füge hizu: Isonzo, wo von 1915 bis 1917 in 12 Schlachten 1,1 Millionen österreichisch-ungarische und italienische Soldaten ihr Leben ließen, gerhört ebenfalls in dies Reihe.32


Militärische Verluste

(in Millionen)

Soldaten Gefallene

Prozent

Deutschland

13,25 2,00

15 %

Österreich-Ungarn

7,80 1,50

19 %

Osmanisches Reich

3,00 0,60

20 %

Bulgarien

1,20 0,10

8 %

Russland

12,00 1,85

15 %

Frankreich

8,10 1,30

16 %

British Empire

7,00 0,85

12 %

Italien

5,00 0,68

14 %

Rumänien

1,20 0,34

28 %

Serbien

0,70 0,13

19 %

USA

4,74 0,21

4 %

Gesamt

63,99 9,56

15 %


  • Ehren wir die Kriegsopfer – die Toten und die Kriegsversehrten, die körperlich und die seelisch Versehrten! -, indem wir die Lehre ziehen: Kein Krieg!

Carl von Ossietzky (1889-1938) schrieb 1919:

„Gebt uns wieder freundlichere Bilder, ihr Freunde!“ hört man es rufen – „Leider sind wir noch nicht so weit, um so sprechen zu können. Noch ist der alte Erzfeind aller Kultur und alles Menschenglücks nicht erledigt. Vollgesoffen mit rotem Menschenblut zog sich der Drache in die Höhe zurück. Auf wie lange? Noch ist die Atmosphäre erfüllt von giftigen und stickigen Gasen. Noch sind genügend Hände bereit, neue Brandfackeln zu schleudern. Nichts, was zum Krieg geführt hat, ist durch den Krieg wirklich abgetan. Was wollen da die paar gestürzten Kronenträger besagen, die armen Marionetten? Noch liegt die ganze Arbeit vor uns. Über dem Portal des neuen Völkerbundgebäudes steht ein höhnisches und drohendes vae victis. Entfesselt bleibt die ganze Unterwelt unsozialer Instinkte. Hochmut des Siegers, Rachsucht des Besiegten werden sich in der Folge gleich gefährlich erweisen. Der deutsche Militarismus, von den Feinden einst bald belächelt, bald perhorresziert, hat seinen Siegeszug über die ganze Welt angetreten. In Deutschland für ewige Zeiten diskreditiert, haben ihn die einst freien demokratischen Völker gastlich aufgenommen. Die größten Verächter sind die gelehrigsten Schüler geworden. – Ihr Visionen vom Krieg, wann werdet ihr einmal überflüssig sein? Heute seid ihr es noch nicht. 1919 wie 1914 bedeutet Warnung und Drohung, Furor der Menschlichkeit wider den Furor der Vernichtung.“

Mit diesen Worten schließt 1919 Carl von Ossietzky sein Vorwort zum zweiten Teil der „Visionen vom Krieg“ von Wilhelm Lamszus (1881-1965). Der erste Teil war 1912 unter dem Titel „Das Menschenschlachthaus“ erschienen und sofort sowohl ein literarischer wie auch ein großer Verkaufserfolg33. Der zweite Teil „Das Irrenhaus“ lag zwar 1914 druckreif vor, konnte aber erst 1919 veröffentlicht werden34.

Das Werk ist eine „wirklichkeitsnahe und eindringliche Vorausschau auf den industrialisierten Zukunftskrieg, den Lamszus als Menschheitsmörder entlarvt,“35 In sieben Sprachen übersetzt, erreichte das schmale Buch weltweit über 80 Auflagen. Nationalisten und Militaristen bekämpften es und vorfolgten den Autor. Er hatte dem Kriegsgott die Maske vom Gesicht gerissen. Lamszus schrieb auch Stücke wie „Giftgas“ (1925) und an seinem Lebensende – nach der Kuba-Krise – „Der Präsident wollte auf den Atomknopf drücken“ (1964). Lamszusens Schreckenstraum wurde grausame Wirklichkeit. Der industrialisierte Krieg fand im Terror totalitärer Machtgebilde eine Steigerung zu industrialisiertem Völkermord aus Rassenwahn.

Haben Kriege auch ihr Gutes?

Trotzdem alledem gibt es auch heute noch die Meinung, Kriege hätten selbst in unserer Zeit noch ihr Gutes. Sie führten zu immer größeren befriedeten Territorien und damit zu Großstaaten mit ihrem friedenstiftenden Gewaltmonopol.36

Ich sehe den Zusammenhang anders: Nationalismus, Militarismus und Industrialisierung haben im 19. Jahrhundert das Deutsche Reich hervorgebracht, und zwar mittels dreier Kriege, nämlich gegen Dänemark 1864, gegen Österreich 1866 und gegen Frankreich 1870/1871. Eine der Folgen des gewonnenen Kriegs gegen Frankreich und der Reichsgründung war der Erste Weltkrieg mit seinem Zivilisationsbruch, dem Zivilisationsbrüche aus Kolonialismus, sprich: rassistische Völkermorde in Afrika37 vorangegangen waren. Der Nationalsozialismus mit seinem Rassenwahn und der Agressionskrieg von 1939 sind deren Fortsetzung und schier unvorstellbare Steigerung. „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ schreit dagegen an. Lassen wir diesen Aufschrei nicht mehr verhallen!

Immanuel Kant (1724-1804) und Volker Gerhardt (*1944)

Volker Gerhardt (*1944)38 führt in seiner Monographie von 1995 zu Immanuel Kants Entwurf ’Zum ewigen Frieden’den Nachweis, dass „Kant nicht nur eine Rechts- und Staatslehre im engeren Sinn, sondern eine auch auf pragmatische, geschichts- und kulturtheoretische Fragen ausgreifende Konzeption der Politik entworfen hat. Politik muss nach Kant als eine „ausübende Rechtslehre“ angesehen werden, die zwar auf moralische und rechtliche Prinzipien gegründet ist, aber in der konkreten Umsetzung wesentlich auf die situativ einsetzende Urteilskraft angewiesen bleibt. Dabei kann sich die Politik der wissenschaftlichen, ökonomischen und technischen Dynamik des menschlichen Handelns nicht entziehen und muss ihre Geschicklichkeit in der Bereitschaft zu Reformen erweisen.“ (Wikipedia zu V.Gerhardt).

Volker Gerhardt beschreibt auch die Wirkungsgeschichte von Kants „Zum ewigen Frieden“ in höchst instruktiver Weise. Jeremy Bentham (1748-1832) vefasste 1787 einen „Plan for an universal and perpetual peace“. Die Friedensbewegung geht zurück auf die Peace-Societies in New York, Boston und London 1818/19 und Société de la morale chrétienne (Paris 1821) und ihrem Nachfolger, dem Comité de la paix (1841). Victor Hugo (1802-1885) forderte 1849 auf dem Friedenskonkress in Paris „Vereinigte Staaten von Europa“. Und in August 1898 beschwört Zar Nikolaus II. im „Zarenmanifest“ den Rüstungswettlauf als ständige Gefahr und erdrückende Last: „Es ist deshalb klar, dass, wenn diese Lage sich weiter hinzieht, sie in verhängnisvoller Weise zu eben der Katastrophe führen würde, welche man zu vermeiden wünscht, und deren Schrecken jeden Menschen schon beim bloßen Gedanken schaudern machen.“

Der Einfluss von Kants Schrift auf die vierzehn punkte von Woodrow Wilson (1856-1924) ist unverkennbar39. „Immanuel Kant appears well on his way to becoming the prophet of ‚progressive international reform.“40

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